Öffentlicher Schreiber
„Vielleicht sind wir Kollegen“, sage ich, als ich das kleine Ladengeschäft betrete. Das Türschild hat mich neugierig gemacht: „Écrivain public“.
Ich bin ein bisschen verlegen. Und auch verdutzt. Ich hatte einen alten Mann mit einem langen Bart erwartet, der an einem abgenutzten, antiken Möbel sitzen und auf Kundschaft warten würde. Der Raum dämmerig und altertümlich, alles ein bisschen verstaubt, vielleicht noch ein zahmer Vogel auf seiner Schulter …
Stattdessen kommt eine junge Frau auf mich zu, selbstbewusst, modisch gekleidet, kein Kopftuch: „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich würde gern wissen, was Sie machen. Welche Dienstleistung Sie anbieten. Nur so, weil es mich interessiert.“
Sie hat mich natürlich sofort als Touristen erkannt. Sie antwortet freundlich, knapp, sachlich. Ihr Unternehmen schreibt im Kundenauftrag, insbesondere in Verwaltungs- und Gerichtsangelegenheiten.
Aha.
Wie ich mir das denn konkret vorstellen kann, frage ich nach. Wenn ich zum Beispiel einen Brief bekommen habe und nicht weiß, wie ich ihn beantworten soll, dann –
„können Sie zu uns kommen und wir schreiben für Sie. Zum Beispiel Verträge, Anträge an die Gerichte, Eingaben an die Stadtverwaltung. Aber auch Bewerbungen.“
Ob sie auch private Briefe für andere Menschen schreiben würde? In Familienangelegenheiten? Liebesbriefe?
„Selbstverständlich, wenn Sie es wünschen“, sagt sie und lächelt professionell. Genauso professionell, wie ihr Laden aussieht: moderne Büroausstattung, drei Schreibtischarbeitsplätze mit Computern, Druckern, Faxgeräten. Alles hell erleuchtet. Alles zweisprachig in Französisch und Arabisch.
Ich überlege, ob ich ihr von mir erzählen soll. Dass ich Biografien schreibe, Familiengeschichten und Firmenhistorien. Aber da betritt ein echter Kunde den Laden und ich möchte der Inhaberin nicht länger die Zeit stehlen. Danke und Tschüss.
Wir sind in Marokko. Genauer gesagt: in der Rue Driba in Meknès. Hier gibt es gleich ein halbes Dutzend dieser „öffentlichen Schreiber“. Bunte Schilder und Aufkleber weisen auf Zusatzdienste hin: Kopierservice, Schreibwarenhandel, Übersetzungen, Internetcafé.
Sehr viele Marokkaner sind Analphabeten. Die Regierung spricht nicht gern darüber. Inoffizielle Schätzungen geben an, dass zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung nicht lesen und schreiben können. Für „écrivains “ dürfte es also viel Arbeit geben.
Interessanterweise bedeutet das französische Wort sowohl „Schreiber“ als auch „Schriftsteller“.
Ob ich mich als „Schriftsteller" bezeichnen darf? Das erscheint mir zweifelhaft. Aber „Schreiber“? Warum nicht?! Das wäre doch passend, für mein Türschild und für meine Visitenkarte, oder?