Neue und alte Zerstörungen

Unser Leben gehört nicht uns allein. Dieses Haus, das wir unser Ich nennen, ist bewohnt von denen, die vor uns kamen. Ihre Spuren sind in unsere Seelen eingraviert. Erst ihre Geschichten machen uns zu dem, was wir sind.

Daniel Speck

Haushaltsauflösung kann ganz fix gehen: Ein paar Leute kommen in die Wohnung, nehmen Möbel mit, die noch irgendwie brauchbar erscheinen, vielleicht noch ein paar Kleidungsstücke. Und dann fliegt der Rest in einen großen Müllcontainer. Papiere, Bilder, Raumschmuck, Schränke und Schubladen mitsamt Inhalt, Kisten und Koffer, Kellerregale und Dachbodengerümpel – alles wird entsorgt und kommt per Lastwagen auf die Müllhalde. Wenn alles gut läuft, ist die Wohnung am Ende besenrein. Ein professionelles Dienstleistungsgewerbe ist daraus entstanden. Nüchtern, preisbewusst, effektiv.

Bei meinen Großeltern ging es noch schneller, sozusagen über Nacht. Nach einem großen Bombenangriff auf Essen stellte die Stadtverwaltung fest: „Schadensgrad in allen Wohnungen des Hauses: 100%. Zustand: Ruine.“ Das war 1944. In jener Nacht verbrannte fast alles, was die Familie besaß: das Mobiliar, der Hausrat und alle persönlichen Gegenstände. Was meinen Großeltern blieb, ist schnell aufgezählt: die Kleidung, die sie trugen, ein paar Wertsachen und Dokumente, die sie im Bunkerköfferchen bei sich hatten, und etwas Leinen und Porzellan, was rechtzeitig ausgelagert worden war, von Großmutters Aussteuer. Das war alles.

Schrecklich.

Ich kann und will mir nicht vorstellen, was es heißt, Haus und Habe zu verlieren. Nichts mehr zu haben, was mir lieb und teuer ist. Den Rest meines Lebens mit diesem Verlust leben zu müssen. Nicht mehr von den Dingen umgeben zu sein, die mir etwas bedeuten. Die ich in die Hand nehmen kann, die ich anderen Menschen zeigen kann. Dinge, die etwas erzählen können und die ein Teil von mir geworden sind.

Eine Haushaltsauflösung kann wie ein Bombenangriff sein.

Wenn am Ende alles weg ist, futsch, Tabula Rasa: Was bleibt von den Menschen, die hier einmal gelebt haben? Wer rettet, was zu retten ist? Ist da jemand, der sortiert und bewahrt? Der sich Fragen stellt und versucht zu verstehen, was da hinterlassen ist? Oder zählt nur: Augen zu und durch, Tempo, Tempo, weg mit dem Krempel!?

Zugegeben: Ich neige zum Sammeln und Horten. Ich bin empfänglich dafür, wenn mich Geschichten und Lebensgeschichten anflüstern, wenn Gegenstände mit mir sprechen wollen und anfangen, mir etwas zu erzählen.

„Um Himmels Willen! Was soll das denn jetzt?! Man kann doch nicht alles aufbewahren und behalten!“ Ich höre schon die Gegenstimmen der Realisten und Vorwärtsgewandten. Recht haben sie.

Man kann nicht alles aufbewahren.

Man muss sich auch mal von etwas trennen können. Man muss mal etwas hinter sich lassen können.

Jaja, ich weiß.

Trotzdem …